Musik als Spiegel der Kultur: Warum mich die amerikanische Musikalität mehr berührt als die deutsche
Ich habe ein paar Jahre meines Lebens in den USA verbracht und dabei nicht nur die großen Städte, sondern auch abgelegene Gegenden bereist. Gerade dort, fernab der urbanen Zentren, habe ich eine musikalische Authentizität erlebt, die mich tief beeindruckt hat. In kleinen Kneipen, an Straßenecken oder bei regionalen Festen spielte man live: Blues, Jazz, Country, Bluegrass. Es war nie perfekt, nie poliert – aber immer echt. Diese unmittelbare, ungeschönte Ausdrucksform hat mich berührt und meinen Blick auf Musik grundlegend verändert.
Zurück in Deutschland fiel mir wieder auf, wie stark das Bild hier vom Schlager geprägt ist – besonders in den neuen Bundesländern. Schlagermusik empfinde ich als eine der primitivsten Formen musikalischen Ausdrucks: ästhetisch flach, textlich oft banal, musikalisch generisch. Man hört seelenlose MIDI-Arrangements, die austauschbar klingen, und Texte, die sich im Kitsch verlieren. Es mag überheblich klingen, aber ich habe oft das Gefühl, dass Menschen, die diese Musik lieben, einen sehr einfachen Zugang zur Welt haben. Sie suchen nach Heimatgefühl, nach Geborgenheit, nach Einfachheit – alles legitime Bedürfnisse. Doch es erstaunt mich, dass dieses Bedürfnis in Deutschland musikalisch derart niveaulos bedient wird.
Dabei gibt es auch in der deutschen Musiktradition wertvolle Schätze: alte Wanderlieder, echte alpenländische Volksmusik, die nichts mit der seicht verpackten volkstümlichen Musik zu tun hat, die wir heute im Fernsehen sehen. Leider wurde auch diese Musik von der Unterhaltungsindustrie instrumentalisiert und ins Lächerliche gezogen. Ich selbst habe Volksmusik früher belächelt, bis ich begann, sie von ihrer ursprünglichen Seite kennenzulernen – fernab von Trachtenparaden und Fernsehstadl.
Einen großen Anteil an dieser kulturellen Fehlentwicklung, so denke ich, haben die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Sie hätten einen Bildungsauftrag, der darin bestehen müsste, kulturelle Vielfalt und Tiefe zu fördern. Stattdessen wurde über Jahrzehnte hinweg massenkompatibler Schlager gefördert – zu besten Sendezeiten, mit großem Aufwand produziert, aber inhaltlich leer. Es war, als habe man sich entschieden, das Niveau bewusst abzusenken, um eine bestimmte Klientel zufriedenzustellen. Dabei hätte man durchaus alternative Wege gehen können – echte regionale Musik, neue Interpretationen alter Traditionen, Musiksendungen mit Tiefe und Kontext. Aber dazu fehlte offenbar der Mut oder der Wille.
Erst in den letzten Jahrzehnten, vor allem seit der Einführung des Privatfernsehens, hat sich in Teilen eine Qualitätsverbesserung bemerkbar gemacht. Besonders die Dokumentarfilmformate – allen voran die Terra X-Reihe des ZDF – haben internationale Standards gesetzt. Trotz der heutigen unüberschaubaren Vielfalt an Streamingangeboten schaue ich immer noch gerne ZDF-Dokumentationen. Sie vermitteln Wissen ohne erhobenen Zeigefinger und beweisen, dass öffentlich-rechtliches Fernsehen auch anders kann.
Trotzdem bleibt die Kluft zwischen dieser intellektuell anspruchsvollen Medienwelt und der musikalischen Massenunterhaltung eklatant. Und genau hier zeigt sich für mich ein Unterschied zur amerikanischen Kultur: Auch dort gibt es massenhaft kommerzielle Musik – allen voran Country. Doch selbst im Mainstream behält die amerikanische Unterhaltungsmusik oft eine gewisse ästhetische Integrität. Country-Songs erzählen Geschichten, drücken echte Gefühle aus, sind handwerklich solide gemacht. Sie klingen nicht wie ein Algorithmus, sondern wie ein Mensch mit Lebenserfahrung.
Was mich an den USA besonders beeindruckt hat, ist, dass Musik dort nicht etwas ist, das man passiv konsumiert – sie wird gelebt. Selbst Menschen mit geringem Bildungsgrad singen im Kirchenchor, spielen Gitarre, schreiben Songs. In den sogenannten „einfachen“ Bevölkerungsschichten gibt es eine kulturelle Selbstverständlichkeit, die ich in Deutschland oft vermisse. Hier hingegen wird musische Bildung oft als etwas Elitäres angesehen – als etwas, das man sich leisten können muss oder das in Bildungsbürgerhaushalten zuhause ist.
Dass viele Deutsche Amerikaner als unkultiviert bezeichnen, halte ich inzwischen für eine Projektion. Es wirkt fast wie ein Reflex – ein Versuch, sich kulturell zu erhöhen, indem man andere abwertet. Ich denke, dieser Reflex hat viel mit dem Antiamerikanismus zu tun, der in Deutschland tief verwurzelt ist – und zwar sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Die Linken sehen in Amerika den Inbegriff des Kapitalismus und der kulturellen Oberflächlichkeit, die Rechten ein „entwurzeltes Volk“, das keine echte Tradition kennt. Beide Sichtweisen verkennen die kulturelle Tiefe, Vielfalt und Komplexität der amerikanischen Gesellschaft – gerade im musikalischen Bereich.
Vielleicht ist es auch ein Ausdruck einer deutschen Identitätskrise. Die deutsche Kultur hat durch ihre Geschichte tiefe Wunden erlitten – Schuld, Spaltung, moralischer Selbstzweifel. In dieser Gemengelage ist es einfacher, andere Kulturen zu bewerten, als sich mit der eigenen ehrlich auseinanderzusetzen. Während sich die Iren, Amerikaner oder Skandinavier selbstverständlich mit ihrer Musik identifizieren, wirken viele Deutsche entfremdet – von der eigenen Vergangenheit, von regionalen Traditionen, von echter Volkskultur.
Ich wünsche mir, dass sich dieses Bild ändert. Dass wir wieder lernen, unsere eigene musikalische und kulturelle Vielfalt wertzuschätzen – nicht in Form von Glitzer und Floskeln, sondern mit Substanz und Seele. Und dass wir aufhören, über andere zu urteilen, bevor wir gelernt haben, unsere eigene kulturelle Stimme wirklich zu hören.
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